Herausforderung Migration

Geschichte der Beckhofsiedlung der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel

Verlag für Regionalgeschichte, Gütersloh und Bethel-Verlag, Bielefeld 2008.

Das Schlagwort „Migration“ hat in den letzten Jahren eine ungeahnte Karriere gemacht. „Menschen mit Migrationshintergrund“ tauchen allenthalben in den Medien auf. Der entste-hende Eindruck, dass es sich bei diesen Phänomenen um moderne Erscheinungen handelt, mit denen die deutsche Gesellschaft erst in jüngerer Zeit verstärkt umgehen muss, ist allerdings falsch. Tatsächlich gab es die größten Migrationsbewegungen in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als an die zwölf Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten eine neue Heimat im Westen suchten, während zeitgleich die „Repatriierung“ der so genannten „Displaced Persons“ (DPs) in ihre Heimatländer erfolgte. Bei diesen handelte es sich in erster Linie um die ehemaligen Zwangsarbeiter, die Insassen der befreiten Konzentrationslager, die Kriegsgefangenen und sonstigen Ausländer.

Das Buch „Herausforderung Migration. Geschichte der Beckhofsiedlung der v. Bodel-schwinghschen Anstalten Bethel“ widmet sich einer besonderen Gruppe unter den Displaced Persons, nämlich jenen, die in den Westzonen und der späteren Bundesrepublik Deutschland verblieben, und die im behördlichen Sprachgebrauch bald „Heimatlose Ausländer“ hießen. Es handelte sich um Menschen, die vornehmlich aus Ost- und Südosteuropa stammten. Sie wollten und konnten aus vielerlei Gründen nicht in ihre Heimatländer zurück. Unter ihnen befanden sich Alte, Kranke, Menschen mit physischen und psychischen Behinderungen, Familien, junge Mütter mit Kindern und andere. Für die Fürsorgebehörden galten sie als nur schwer oder gar nicht ins Arbeitsleben und in die bundesdeutsche Gesellschaft integrierbar. Man ging davon aus, dass sie Zeit ihres Lebens „Versor-gungsfälle“ bleiben würden.

Untergebracht waren diese DPs in Barackenlagern, in schnell hochgezogenen Niedrigkomfortsiedlungen oder in ehemaligen Kasernen. Auch auf dem früheren Wehrmachtsgelände im lippischen Augustdorf hatte man sie angesiedelt. Bald wohnten hier über 2.000 DPs. Ihre Le-bensbedingungen waren zum Teil katastrophal. Vor dem Hintergrund ihres zum Nichtstun verurteilten Daseins ergaben sich große psychische Probleme, die bei den Betroffenen allzu oft in Depressionen, Alkoholsucht und Selbstmorden, aber auch in der Kriminalität endeten. Eine Zäsur bedeutete der Hilferuf zweier evangelischer Geistlicher zu Beginn der 1950er Jahre nach Bethel. Die beiden Pfarrer, die die Menschen in Augustdorf betreuten, schilderten in krassen Worten die Umstände im Lager. Die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel sahen sich herausgefordert und begannen 1954 mit ersten Hilfsangeboten in Augustdorf. Erklärtes Ziel war es, durch sinnvolle Beschäftigung die wirtschaftliche und mentale Lage der Bewoh-ner zu verbessern. Schon bald gründete man dort Werkstätten, die den Namen „Frohes Schaf-fen“ trugen.

Das Engagement mündete 1958 in die Gründung der Beckhofsiedlung. Hier, am südöstlichen Rand der damaligen Gemeinde Senne II, lebten und arbeiteten bald Heimatlose Ausländer aus zwölf europäischen Nationen mit ihren unterschiedlichen Glaubensrichtungen zusammen. Die 1962 eingeweihte Beckhofkirche ist bis heute das Symbol der dort praktizierten Ökumene. Schon 1959, ein Jahr nach Fertigstellung der Siedlung, traf man in den dortigen Werkstätten, die ebenfalls „Frohes Schaffen“ hießen, bereits Patienten aus Betheler Häusern an. Dieser Prozess setzte sich immer weiter fort.

In den 1970er Jahren erfuhren die Werkstätten ihren größten Ausbau. Praktiziert wurde dort das so genannte „Mischprinzip“: behinderte und kranke Menschen, alte und junge, einheimische und ausländische arbeiteten friedlich und effektiv zusammen. Die Bewohner der Anlage berichten nach wie vor von einem unvergleichlichen Gemeinschaftsgefühl, das alle zusammengeschweißt habe.

In den 1980er Jahren und 1990er Jahren zeichneten sich, analog zur gesamtwirtschaftlichen Situation, diverse Schwierigkeiten ab. „Frohes Schaffen“ gingen Auftraggeber verloren. Umstrukturierungen und organisatorische Straffung der Produktionsabläufe waren die notwendi-gen Folgen.

Im Jahre 1999 wurden die Werkstätten durch einen verheerenden Brand zerstört. Daraufhin entschied man sich, die Immobilien mittel- bis langfristig neuen Nutzungen zuzuführen. Anlässlich der Feier des 50-jährigen Bestehens der Beckhofsiedlung im September 2008 erscheint dieses Buch, das anhand der Vorgeschichte und des Werdegangs dieser einzigartigen und weltweit viel beachteten Einrichtung die gelungene Integration von Menschen mit Migrationshintergund aufzeigt, ohne dass diese ihre kulturelle Identität dabei einbüßten.